Die nächsten Tage in Kiev ist die Stimmung gedämpft, was aber nicht an Kiev liegt, sondern an meinem Oberschenkel. Ich verarzte ihn mit Kinesiotape, das gut hilft, auf das ich aber leider allergisch bin. Es ist die Wahl zwischen Pest und Cholera.
Dazu kommt, dass mich ganz viele Menschen auf meinen Akzent ansprechen. Ich sage etwas, darauf das Gegenüber:“Woher kommen Sie?“ Ich:“Aus Deutschland.“ Das Gegenüber:“Das habe ich mir gleich gedacht, dass Sie nicht von hier sind.“ Seufz… Ich frage mich, warum ich mich überhaupt mal mit Phonetik gequält habe und versuche stimmhafte und stimmlose Zischlaute zu bilden. Mit den Sprachen ist es leider nicht wie mit dem Radfahren.
Nichtsdestotrotz mache ich mich zu einem abgespeckten Besichtigungsprogramm auf. Die Anfahrt aus Comfort-Town erfolgt zunächst mit einem Marschrutka, das ist ein Minibus, der als Linientaxi fungiert. Das Wort kommt vom Deutschen „Marschroute“ (wobei Marsch und Route natürlich auch Lehnwörter sind). Das russische „Marschrut (маршрут)“, ist ein Alltagswort, das „Weg“ oder „Route“ bedeutet. Dann geht es mit der U-Bahn weiter, die 1941 konzipiert und 1949 gebaut wurde und mit Bunker-Funktionen ausgestattet ist. Die Stationen liegen deshalb extrem tief unter der Erde, „Arsenalna“, die tiefste Station, ist 105 m. unter der Oberfläche. Die längste Rolltreppe überwindet 65 Höhenmeter.
In Kiev gibt es zwei bedeutende Sakralbauten, die Sophienkathedrale und das Höhlenkloster. In erster verbringe ich fast einen ganzen Nachmittag, die Fresken sind wirklich unglaublich. Ich will aber niemand langweilen, wer’s genauer wissen will: hier lang.
Das Höhlenkloster, das heute wieder von Mönchen, bewohnt wird, ist eine riesige Anlage, halb so groß wie der Vatikan. Der obere Teil mit den prächtigen Kirchen ist ein Museum. Mein persönliches Highlight: eine Kirche mir Jugendstil-Interieur. Die Auferstehungskathedrale wurde im WWII auf Befehl von Reichskommissar Erich Koch gesprengt und von 1998 – 2000 wiederaufgebaut. Die Fremdenführerin meint, dass es auch die Sowjets gewesen sein könnten, was ich nach etwas nachlesen eher für Wunschdenken halte. Im unteren Teil der Anlage sind die berühmten Höhlen, die teilweise bewohnt werden, vor allem aber als Gräber dienen. Die bestatteten Mönche sind z.T. mumifiziert, weswegen sehr viele Pilger kommen. In den Höhlen bekomme ich eine Ahnung, was Klaustrophobie bedeutet. In dem riesigen Ganglabyrinth ist es total eng und niedrig. Es gibt kein Licht, alle haben Kerzen, wodurch es warm und stickig ist. In den Nischen mit den Gräbern wird kräftig mit den Kerzen gewedelt, was in der Enge und mit Kopftuch (Pflicht) ein sehr besonderes Erlebnis ist. Ich beschließe, dass es reicht, wenn ich die ersten paar Gräber gesehen habe. Mehr zum Höhlenkloster gibt es hier.
In orthodoxen Kirchen ist Kopftuch für Frauen Pflicht (und ältere Frauen vom Land tragen auch im Alltag Kopftuch, das hatte ich ja schon geschrieben). Ich frage mich, wie das die Kopftuch-Gegner bei uns sehen würden, aber wahrscheinlich ist das gaaaanz etwas anderes. Ich halte es pragmatisch, in Kirchenmuseen setze ich kein Kopftuch auf, in funktionierenden Kirchen setze ich eins auf, wenn ich eins dabei habe. Wobei frau in einigen Kirchen wie bei den Höhlenklöstern ohne Kopfbedeckung nicht eingelassen wird.
Ansonsten nehme ich im von dem Oligarchen Pinchuk finanzierten gleichnamigen Artcenter an einer Kunst ähm ja Performance names „Generator“ von Marina Abramovic teil. In Kiev of all places – damit habe ich nicht gerechnet. Ich besuche auch noch etliche andere Museen, wie z.B. das Wohnhaus des von mir hochverehrten Michail Bulgakov, aber das im einzelnen alles aufzuzählen ist für den Leser sicher ermüdend.