Nachdem das Besichtigungsprogramm abgearbeitet ist, beschäftige ich mich vornehmlich mit Dasein. Sehr gut kann man das an den vielen Dnepr-Stränden. Eine ganze Insel ist zum Naherholungsgebiet oder eher zum Mittendrin-Erholungsgebiet, nebst eigener Metro-Station gestaltet worden. Wer hier erholen will, sollte allerdings ukrainischen Pop in Club-Lautstärke mögen oder zu einem lauschigeren Plätzchen am Insel-Ende wandern. Auf der Insel befindet sich auch der legendäre Freiluft-Fitness-Studio Kachalka, das in 1970ern von Enthusiasten gegründet wurde. Die Geräte sind aus Altmetall, Schiffschrauben, Panzerteilen und was sich noch so an brauchbarem findet. Hier ist ein kleiner Film.
Da ich die Ukraine bald verlasse, möchte ich ein paar Fragen beantworten, die an mich herangetragen wurden. Zur ersten, es ist genau so gefährlich bzw. ungefährlich wie in München. Auch spätnachts begegnen mir auf den 15 min von der Bushaltestelle zur Wohnung immer noch genügend Leute, die einen in der Regel handtaschengroßen Hund ausführen oder einfach so noch draußen sind. Selbst der Straßenverkehr ist deutlich zivilisierter als früher.
Die politische Situation kann ich schwer einschätzen. Klitschko ist – so mein Eindruck – als Bürgermeister von Kiev ganz beliebt und hat wohl auch schon einiges bewegt. Für ihn spricht, dass er nicht Teil der Vetternwirtschaft ist und nicht bereichern will. Er ist ja schon reich und berühmt. Anfangs haben sich alle über seine unbeholfe Art lustig gemacht, aber so eine Frau, mit der ich mich unterhalte, er soll ja keine Reden schwingen, sondern was bewegen. Über den Präsidenten Poroschenko gehen die Meinungen auseinander – viele halten ihn auch für einen der Spezeln. Zumal er nach wie vor seine Schokoladenfirma „Roshen“ führt, obwohl es verboten ist, Amt und Geschäftstätigkeit zu vermischen.
Mit dem Nationalismus ist es so eine Sache – ich schwanke zwischen Verständnis und Befremden. Verständnis, da die Ukraine wenn überhaupt immer nur sehr sehr kurz als Nationalstaat existiert hat und sich jetzt seinen Platz im Weltgeschehen sichern will – gegen die Machtansprüche Russlands im Osten und die Ignoranz der restlichen Welt, die sich am Kopf kratzt und fragt, ähhmm ja wo liegt die Ukraine denn jetzt genau und wieso sind das plötzlich keine Russen mehr? Befremdet bin ich, wenn ich mir vorstelle, alles was hier gelb/blau ist, wäre bei uns scharz/rot/gold: Brückengeländer, U-Bahnwaggons, Blumentöpfe, Schwimmbad-Rutschen, die Fingernägel der Schaffnerin… Anna, meine Vermieterin erzählt, dass es auch viele nur in ukrainisch-orthodoxe bzw. russisch-orthodoxe Kirchen gehen. Der Unterschied scheint mir der gleiche wie zwischen der Volksfront von Judäa und der judäischen Volksfront. Anna hat schon in der Türkei gelebt und war viel auf Reisen. Sie hat für solcherlei Spitzfindigkeiten wenig Verständnis. Wenn sie beten will geht sie in gleich welche Kirche, Moschee oder was auch immer. Der liebe Gott sei ja derselbe.
Erstaunlicherweise bekomme ich vom Krieg im Osten nicht so viel mit. Alles geht seinen Gang, die Menschen gehen zur Arbeit, ins Theater, ins Café… Es gibt etwas mehr Militär in der Stadt als üblich, ab und zu sehe ich ein Plakat, an vielen Stellen wird für die Zivilbevölkerung im Osten gesammelt. Alle, mit denen ich spreche, möchten, dass der Krieg bald beendet ist und das Land auf die Beine kommt. In der Brust meiner Gesprächspartner schlagen zwei Herzen, zum einen will man sich von Russland nicht einfach Gebiete wegnehmen lassen, andererseits empfinden viele den Krieg als Bruderkrieg. Mit Hurra ist keiner bei der Sache.
Zufällig gerate ich in eine Ausstellung über die Nato, deren Mitglied die Ukraine werden will. Nach Besuch der Ausstellung frage ich mich, warum die Nato nicht jedes Jahr den Friedensnobelpreis erhält.
Beim Schlendern durch die Stadt fällt mir noch etwas auf: es gibt viel mehr Frauen als Männer, vor allem ab 50 aufwärts. Kein Wunder, die Lebenserwartung für Frauen beträgt 74,86 Jahre, die für Männer 63,78 Jahre.
Ansonsten gehe ich ins Theater, sitze im Café herum und fahre zu einem Bauernhofmuseum außerhalb der Stadt. Heute geht es dann weiter in die Kirgisische Hauptstadt Bishkek, von deren Existenz auch viele Ukrainer einigermaßen überrascht sind.